Zu Christian Bönschens Lebensgeschichte – eine Ergänzung
Christian war Hörder. Im Bethanien geboren, verbrachte er fast sein ganzes Leben im Neumarkt-Viertel. Als unser Verein „Wir am Hörder Neumarkt“ entstand, wollte er mitarbeiten und daran anknüpfen, woran seine Persönlichkeit in seinen besten Jahren gewachsen war: Initiativ und engagiert zu sein, d. h. für seine Lebensinteressen zu kämpfen. Er wollte nie Opfer sein, sondern mutige Ideen verwirklichen. Und wollte auch nie nur Einzelkämpfer sein. Und hat daher in basisdemokratischer Zusammenarbeit mit Gleichgesinnten Großes geschafft und geschaffen. (Siehe RN-Artikel unten!).
Nun muss man wissen, dass Christian, 1955 geboren, von Geburt an spastisch behindert war. Wer und Was aber hat Christian ermöglicht, aus seinen nicht gerade privilegierten Startbedingungen heraus zu einem aktiven eigenen Leben zu kommen, das er sich so selbstverantwortet und erfolgreich erkämpft hat.
Wurden doch Behinderte in den 50er Jahren als minderwertige Menschen betrachtet. Noch hatte in den Herzen und Köpfen vieler Menschen der Ungeist der Nazi-Herrschaft seine Spuren hinterlassen, als das „lebensunwerte Leben“ Behinderter systematisch verfolgt und vernichtet wurden. Eltern dieser Kinder waren in der Nachkriegszeit mit ihnen allein gelassen oder auf Anstalten verwiesen, wo sie mehr oder weniger versteckt wurden und ein kümmerliches Dasein hatten. Auch in Dortmund.
Ein Skandal, dem sich Christians Eltern Gertrud und Gustav in den Weg stellten. Sie hatten etwas von einem Elternverein in Münster gehört, der ihren Kindern eine Perspektive für eine behindertengerechte Erziehung und Entwicklung in einer eigens eingerichteten Kindertagesstätte eröffnete. So warben Christians Eltern auch in Dortmund für die Gründung einer solchen Einrichtung. Sie gründeten mit anderen Betroffenen einen Elternverein, der 1957 unter der Trägerschaft der Caritas und der Inneren Mission (später Diakonie) die erste Dortmunder Kindertagesstätte für behinderte Kinder ins Leben rief. Eine außergewöhnliche Pionierarbeit, die es erforderte, in praktischer und gleichzeitig theoretischer Hinsicht sensible Kenntnisse und Fertigkeiten zu erwerben und anzuwenden. Motivierte und engagierte Erzieherinnen mussten und wollten alles Wichtige und Richtige für die körperliche und seelisch-geistige Ertüchtigung der behinderten Kinder tun, um vor allem ihr positives Lebensgefühl durch viel Lob und Lachen zu stärken.
Gertrud Bönschen half übrigens ehrenamtlich dabei mit. Sie hatte daher ihren ausgeübten Beruf aufgegeben und entwickelte in ihrer pädagogisch-therapeutischen Mitarbeit großes Interesse für einen neuen praxisnahen Beruf: die Sprachtherapie (auch Logopädie genannt), den sie von der Pieke an erlernt und ausgeübt hat. Dabei leistete ihr ein jüdischer Professor, namens Paul Goldschmidt, aus den Niederlanden mit viel Herz und kinderfreundlicher Phantasie Unterstützung. „Aus großer Zuneigung zu den Kindern“, erinnert sich Gertrud.
Auch das erste Schulangebot für Christian und die anderen behinderten Kinder geht auf die Initiative des Dortmunder Elternvereins zurück. Da die politischen Instanzen auf kommunaler und landespolitischer Ebene immer noch keinen Handlungsbedarf sahen, ging das nur in Form einer privaten Ersatzschule. Denn offiziell galten behinderte Kinder wie Christian als „nicht beschulbar“. Unglaublich, aber wahr!
Christians Leben ist ein Beleg dafür, wie wichtig die pädagogische Selbsthilfe-Initiative seiner und der anderen Eltern damals für ihn und die anderen behinderten Kinder war. Gertrud sagt heute noch: „Ich habe einen völlig neuen Beruf erlernt, der mir viel Freude gemacht hat und für mich lebenserfüllend war.“
Jupp Damberg